Ich tappte vorsichtig, die Arme weit ausgestreckt, touchierte zwei Stühle, stieß mit der Schulter an eine Mauer und bin doch, ohne zu straucheln, durch alle Zimmer, die Treppe hinauf und wieder hinunter gelangt. Es war nicht meine Vorstellungskraft, sondern das Gedächtnis der Füße, das mich leitete. Ich bewältigte den Steig, der zwei Kehren um neunzig Grad macht, sicheren Schrittes mit verbundenen Augen, die Füße wussten, wo sich mich nach links und rechts zu führen hatten. Sie waren es auch, die sich erinnerten, wo es auf gefährliche Unebenheiten im Gelände zu achten galt, und mich sicher ins Badezimmer brachten, in dem es mir sogar gelang, die Zahnpastatube zu ertasten, ohne ein einziges Stück von hundert Fläschchen, Cremedosen, Seifen, Pinseln, Stiften vom Tisch zu wischen. Selbst die elektrische Zahnbürste vermochte ich noch zu ergreifen und in Betrieb zu nehmen; als ich die summende Bürste zu Mund führte, habe ich diesen jedoch nicht getroffen, sondern mir in die linke Wange gestoßen. Das erschreckte mich, ist doch sonst, wenn man die Zähne putzt, kein Spiegel vonnöten, dass man die Öffnung in seinem Gesicht findet.

 

In der Küche fand ich mich ebenso gut zurecht. …Erst recht bei den Büchern konnte ich mir sicher sein, ich prahle ja damit, jedes Buch, das ich suche, binnen längstens einer Minute zu finden. Die Bücher, die auf den Regalen der Treppe in ihrer Ordnung stehen, erkannte ich, indem ich an ihnen mit dem Handrücken entlangstreifte. Hier ging es Schritt vor Schritt  von der amerikanischen und englischen Literatur zu ....Als ich im skandinavischen Sektor bei einem dickleibigen Band angekommen war, nahm ich ihn heraus. Ich nahm das Buch, legte es beiseite und freute mich darauf, es später, wenn ich das Experiment beendet haben würde, darin zu blättern….

 

Als es so weit war, staunte ich, wie weit ich abgeirrt war. Ich hatte die Bretter mit der entsprechenden Literatur um mehr als einen Meter verfehlt. Es war, als wäre ich den Mount Everest hinaufgeklettert und an der Spitze des Dhaulagiri angekommen

 

Aus: Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer   Karl-Markus Gauß

gekürzt

29. November

Die Reise durch mein Zimmer als Blinder

 

Der Amerikaner Erik Weihenmayer stand am 25. Mai 2001 als erster, der Osttiroler Andy Holzer sechzehn Jahre später als zweiter blinder Bergsteiger auf dem Gipfel des Mount Everest. Ja, blind auf dem Mount Everest. Aber durch meine Wohnung? Ich lag schläfrig auf dem Sofa im Wohnzimmer, dachte an die eisigen Hänge und eisig kahlen Felsen des Himalaya und an den Parkettboden unserer Wohnung, da fiel mir ein, dass ich mich schon lange in einer selbstgewählten Finsternis erproben wollte. Ich nahm die Brille ab und band mir eine Halstuch um die Augen..

CF