12. Dezember

Dieser seltsam überweltliche Eindruck verdankt sich keiner künstlerischen Idee oder gärtnerischen Planung, sondern dem Niedergang des Tempels im 19. Jahrhundert. Die gesamte Anlage verfiel, Überschwemmungen legten weite Teile unter Wasser. Dann kam das Moos, kamen die Moose. Langsam werden sie vorgedrungen sein, Stein um Stein überzogen haben, bis sie schließlich den ganzen Garten in Besitz genommen hatten. Als westlicher Besucher hätte man gedacht, dass ein japanischer Tempelgarten als „Reines Land“, feinsinnig konzipiert und akkurat gepflegt sein müsste. Doch dieser hier, der schönste von allen, ist einfach so passiert, wie eine Gnade.

Der Tempel des unendlichen Grüns. Kokedera Japan

In Kyoto gibt es einen Garten,  dass Japaner, die ihn besucht haben, ihn für den schönsten Garten in Japan halten, also für den schönsten auf Erden. Es ist gar nicht so einfach, zu ihm zu gelangen. Monate vorher muss man sich  brieflich anmelden. Japaner haben eine frankierte Postkarte für die Antwort beizulegen, Ausländer einen International Reply Coupon. Dann heißt es warten. Wenn man Glück hat, erhält man irgendwann eine Antwort, die handschriftlich ein Datum und eine Uhrzeit nennt. Man darf  auch nicht gleich in den Garten gehen. Zunächst ist man gehalten, an einer buddhistischen Zeremonie teilzunehmen: Man sitzt auf den Knien im Tempel, hört sich Gesänge, Trommeln und Glocken an, versucht mit einem Pinsel ein Sutra nachzuschreiben, rezitiert es anschließend gemeinsam mit  den anderen, legt das Blatt schließlich der Buddha-Figur zu Füßen – dann erst darf man den Garten des Saihõ-ji-Tempels betreten. Er wird auch „Koke-dera“ genannt, „Moostempel“, denn er beherbergt über hundert Moosarten.

Der Tempel wurde im Jahr 731 gegründet, 1339 dem Zen-Buddhismus zugeeignet. Seither ist er dem Buddha des Unermesslichen Lichtglanzes gewidmet.  Zur gleichen Zeit wurde ein Steingarten angelegt. Wer ihn besucht, geht wie durch eine verwunschene Welt. Schmale Wege führen an drei Teehäusern, an dünnen Wasserläufen und Teichen,  Brücken, Felsen, einem Boot, hohen Bäumen vorbei. Doch das Entscheidende befindet sich am Boden: Moos, überall Moos. Es überzieht alles, den Erdboden, die Steine und Brücken, die Baumstämme. Über hundert Arten, Formen und Farbtöne: dunkles Grün und helles Grün, weiches Moos und hartes Moos, fein und grob, dicht und weit, hart und zart, bescheiden und ausgreifend. –ein grünes Gegenbild zum blauen Himmel.

In Kokedera kann man erfahren, was für eine anspruchsvolle Unternehmung der Besuch eines schönen und heiligen Ortes eigentlich ist. Es genügt nicht, sich vorfahren zu lassen, hineinzuspazieren und sich kurz umzuschauen…. Es braucht eine Vorbereitung, eine gewisse Mühe …eine Beschäftigung mit dem Glauben dieses Hauses und seines Gartens… Sonst wird man nichts sehen, verstehen und erleben, unberührt und unverändert wird man wieder hinausgehen…

 

Ich  bin sicher,  das gilt auch für unsere heiligen Orte – auch hier in Markt Erlbach für unsere beiden Kirchen, die Kilianskirche und die  Kirche Maria Namen …

 

Die seltsamsten Orte der Religionen Johann Hinrich Claussen