„Vier sehr alte Herren, die Hosen hoch bis zur Brust heraufgezogen, breite Krawatten zu großen Sonntagsknoten gebunden, waren  in der Sakristei gesessen und mir kam nicht vor, dass wir sie in einem Gespräch gestört hatten, sondern dass sie es gewohnt waren, seit vielen Jahren so beisammen zu sitzen und Wache zu halten. Wache zu halten, dass ihre Kirche nicht wieder abgetragen wird, dass keiner von ihnen sich aus dem Staub macht und unerlaubterweise stirbt, dass die Welt noch eine Weile erhalten bleibt und es noch eine Weile diese Sonntage, dieses gemeinsame Warten und Wachehalten gibt.

 

Gleich standen sie auf und führten uns in eine geradezu innig ausgestattete Kirche, in der es stark nach Weihrauch roch und sehr warm war, weil Hunderte kleiner und größerer Kerzen brannten, in Töpfe und Kästchen mit Sand gesteckt. Die alten Herren folgten uns auf jeden Schritt, den wir taten, unsere Unterhaltung beschränkte sich auf freundliches Murmeln und Zunicken, wenn wir wieder etwas Neues gesehen hatten und uns anerkennend zu ihnen wandten.

 

Als wir zurück in der Sakristei waren, wollten uns die alten Herren, von denen kein lautes Wort zu hören war, etwas anbieten, wie es sich Gästen gegenüber gehört. Aber sie hatten nichts. Eindringlich flüsterten sie, dann schlurfte einer von ihnen hinaus. Nach einigen Minuten kam das Schlurfen wieder näher. Der Alte von vorher trat ein und gesellte sich mit verlegenem Kopfschütteln zu seinen Gefährten .

 

17. Dezember

Bitola  Aromunen                     

 

In Bitola, der drittgrößten Stadt in Mazedonien, gab es eine orthodoxe Kirche des kleinen Volksstammes der Aromunen. Das kleine Kirchlein störte an der ursprünglichen Stelle in der Stadtmitte. Es wurde abgebrochen und Stück für Stück in einem stillen Vorort – etwas versteckt hinter hohen Häusern wieder aufgebaut. Karl-Markus Gauß fand es bei seiner Suche nach den Resten des Volksstammes der Aromunen. .

Als wir später alle gemeinsam auf der Bank vor der Kirche saßen, begann  einer der Alten, nachdem er die dazu notwendigen Utensilien umständlich aus seiner Rocktasche geholt hatte, mit zittrigen Fingern eine Zigarette zu drehen. Es dauerte eine Weile, bis er sie, fertig hatte – ein redlich unansehnliches, unregelmäßig gestopftes Ding. Feierlich überreichte er mir die Zigarette, die alten Herren nickten heftig und musterten mich, ob mir das Geschenk auch zusagte, und ich begann, meine erste Zigarette nach sechzehn Jahren mit der inständigen Hoffnung zu rauchen, doch nicht hier in Bitola, auf dieser aromunischen Reise durch Mazedonien, wieder zum Raucher zu werden. Aber schon der erste Zug schmeckte, anders als ich mir das lange eingeredet hatte, ganz ausgezeichnet.

 

Karl-Markus-Gauß: aus  „Die sterbenden Europäer“   gekürzt