5. Dezember

Es ist schwer, frühnachmittags in Kamenz jemanden nach dem Weg zu fragen. Denn es findet sich keiner, der sich um diese Stunde auf der Straße zeigte. Ostdeutsche Provinzstädte suchen gerne den Eindruck zu erwecken, dass sie irgendwann von ihren eigenen Einwohnern vergessen wurden. Die paar Gasthäuser, die wir fanden, waren allesamt geschlossen. Kamenz summte so träge in seiner Langeweile, dass das Kebab-Schild wie ein Versprechen von Abenteuer wirkte. Hier fand ich ein Stück Zukunft. Die Zukunft hieß Saloniki und war ein Lokal, das nicht ganz Kaffeehaus, ein wenig Bar, mehr als eine Imbissbude, eine Andeutung von Restaurant und jedenfalls ganz und gar europäisch war.

 

Vor dem Lokal mit dem griechischen Namen stand dieses Kebab-Schild, das den deutschen Gästen beruhigend versicherte, dass das Lammgericht hier ausschließlich mit Schweinefleisch zubereitet werde. Drinnen zog sich eine vielfarbige Girlande aus kleinen, unentwegt blinkenden Lämpchen durch den Raum. In der einen Ecke thronte eine große, hellblau bemalte Muttergottesstatue, in der anderen wartete geduldig der Kellner, ein lächelnder, zierlicher Filipino. An den Wänden waren Fotos aufgehängt, die ein ärmliches Bergdorf inmitten einer kargen, felsigen Landschaft zeigen. Als ich länger vor dem Bild verweilte, trat ein junger kräftiger Mann hinter dem Plastikvorhang hervor, der die Küche vom Gasthaus abtrennte. Er war klein, dunkel, hatte um das Handgelenk eine goldene Kette und sagte in sächselndem Tonfall: „Das ist ein kurdisches Dorf. Jetzt ist es aber von dem türkischen Militär zerstört worden.“

 

Als ich beteuerte, durchaus zu wissen, welches Unrecht den Kurden widerfährt, verneigte sich der junge Mann förmlich, sagte geradezu erfreut: „Danke! Danke!“ und reichte mir unversehens die Hand. Er empfahl mir als Spezialität des Hauses einen Kebab-Hamburger, der nicht mit Schweinefleisch, sondern mit Fitness-Salat gefüllt sei. Als der philippinische Kellner den vegetarischen Diät-Kebab-Fitness-Hamburger servierte in diesem kurdischen Gasthaus in Kamenz in Sachsen, das einen griechischen Namen hatte, stürmte frohgemut eine laute, hungrige Schar von Gymnasiasten in ihr Stammlokal; so habe ich am Ende noch fröhliche Deutsche gesehen.

 

 

Aus  die sterbenden Europäer

 

Willkommen in Europa

 

 

Kamenz ist eine ostdeutsche Provinzstadt mit sorbischer Vergangenheit und der Geburtsorts Gotthold Ephraim Lessings